Anonymisierter Krankenschein

Aus der Überzeugung heraus, dass das Recht auf Zugang zum Gesundheitssystem unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus sein muss und die Verantwortung dessen nicht in in den Händen von ehrenamtlichen Strukturen liegen kann, entwickelte sich schon vor einigen Jahren innerhalb der Flüchtlingshilfen die Idee eines Anonymisierten Krankenscheins (AK). Der Idee nach sollte es dafür Vergabestellen geben, die unabhängig und vertraulich Personen ohne regulären Aufenthaltsstatus den Zugang zu medizinischer Versorgung in das reguläre Gesundheitssystem ermöglichen. Das Konzept wurde erstmals 2008 von der MFH aufgegriffen und für Göttinger Verhältnisse ausgearbeitet. Was in den ersten Jahren unmöglich erschien, nahm über die Zeit konkrete Formen an und wurde damals erstmals im Rahmen eines Runden Tisches bei Abgeordneten der Stadt Göttingen vorgestellt. Verschiedene Verhandlungsrunden mit Stadt und Landkreis scheiterten, unter anderem, da die damalige Landesregierung dem Projekt einen Riegel vorlegte. Das Projekt wurde weiter entwickelt. Außer dem AK wurde die Aufhebung der Diskriminierung von MigrantInnen durch die restriktive Gesundheitsleistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetzt (AsylbLG) im Rahmen des „Bremer Modells“ eingearbeitet. Dies sieht zusätzlich eine Krankenkassen-Chipkarte für alle Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus vor.

Im Herbst 2013 wurde eine neue Initiative in Zusammenarbeit mit dem Medinetz Hannover gestartet, diesmal auf Landesebene. Durch den Regierungswechsel fanden sich neue GesprächspartnerInnen, mit denen eine Erarbeitung der Problematik möglich war und ein intensiver und offener Austausch über ein mögliches Modellprojekt des AK in Hannover und Göttingen sowie die Einführung des „Bremer Modells“ auf Landesebene stattfand. Wir sehen dieses Modell als eine Möglichkeit, die kurzfristig die Gesundheitsversorgung von MigrantInnen mit unsicherem und ohne Aufenthaltsstatus zu verbessern und die diskriminierenden Restriktionen des AsylbLG zu umgehen. Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept zeigen kann, dass eine diskriminierungsfreie, gerechte Gesundheitsversorgung für alle hier lebenden Menschen möglich ist und dass das AsylbLG mit seinen menschenrechtsmissachtenden Ansätzen in Folge auf Dauer abgeschafft werden muss.

Fakten

Deutschland hat sich in völkerrechtlich bindenden Abkommen zum Menschenrecht auf einen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Aufenthaltsstatus bekannt.

In Deutschland haben AsylbewerberInnen, Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, und – in Ausnahmefällen – MigrantInnen aus neuen EU-Ländern keinen ausreichenden Zugang zu Gesundheitsleistungen. Diese unzureichende medizinische Versorgung kann zu Chronifizierung, Verschlechterungen des Krankheitsverlaufs bis hin zum Tod führen. Neben den individuellen Folgen werden dadurch auch höhere Kosten für das Gesundheitssystem verursacht.

Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht für folgende Personen medizinische Leistungen vor (§1 AsylbLG):

• Menschen im Asylverfahren
• Menschen mit einer aufenthaltsrechtlichen Duldung
• Ausreisepflichtige Personen (Personen mit abgelaufenem Aufenthaltstitel und „Illegalisierte“)

In der Praxis bleibt jedoch dem letztgenannten Personenkreis („Illegalisierte“) der Zugang zu medizinischen Leistungen verwehrt, da nach geltendem Gesetz die Übermittlung sensibler persönlicher Daten durch die Sozialämter an die Ausländerbehörde vorgesehen und sogar verpflichtend ist (§ 87 AufenthG; § 68 SGB X). Mit der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz wurde 2009 eine Übermittlung sensibler persönlicher Daten, die von Krankenhäusern, bzw. ÄrztInnen erhoben wurden, bis in die Behörden hinein untersagt (Nr. 88.2.3 AVV zum AufenthG). Diese ist jedoch in den Sozialämtern sowie bei ÄrztInnen häufig unbekannt und wird in den Kommunen weitgehend ignoriert. Wenn allerdings die „illegalisierte“ Person selbst im Sozialamt einen Krankenschein zur medizinischen Behandlung beantragt, bleibt das Amt gegenüber der Ausländerbehörde meldepflichtig und die Person wird von Abschiebung bedroht .
Der Umfang medizinischer Leistungen wird im Asylbewerberleistungsgesetz auf akute Erkrankungen, Schmerzzustände, Hilfe bei Schwangerschaft, bestimmte Vorsorgemaßnahmen und in Einzelfällen „zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlicher“ Maßnahmen (§4 und §6, AsylbLG) beschränkt, die im Ermessen der zuständigen kommunalen Behörden liegen. Aufgrund der nicht eindeutigen Formulierungen im Gesetz ist der Behandlungsumfang nicht ausreichend klargestellt ; nichtärztliches Personal im Sozialamt entscheidet über die Notwendigkeit medizinischer Versorgung. Die für die Behandlung notwendige Aushändigung eines Krankenscheins wird in diesen Fällen nicht unter medizinischen Gesichtspunkten entschieden, sondern nach dem Ermessen fachfremden Personals der Behörde. Dies verschärft den Konflikt zwischen politisch gewollter Abwehr von Zuwanderung , dem Wunsch nach Kosteneinsparungen und dem Menschenrecht auf Gewährleistung notwendiger gesundheitssichernder Maßnahmen.

Forderungen

Auch im Land Niedersachsen bestehen gravierende Mängel in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Wir fordern die rot-grüne Landesregierung auf, Ihr Vorhaben für ein Paradigmenwechsel für eine humane Flüchtlingspolitik auch im Bereich Gesundheitsversorgung in die Tat umzusetzen.

Wir fordern:

• Die Klarstellung der bisher missverständlichen Formulierungen über den Behandlungsumfang des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Behandlungsumfang muss sich an medizinischer Indikation orientieren. Anspruch auf Krankenbehandlung besteht, „wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern“ (SGB V §27).

• Die Übernahme der Kosten für notwendige DolmetscherInnen zur medizinischen Behandlung.

• Krankenscheine oder Versichertenkarten dürfen keine einschränkenden Kennzeichnungen des Behandlungsumfangs enthalten.

• Die freie ÄrztInnenwahl ist für alle Menschen mit Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sicherzustellen.

• Die Inanspruchnahme notwendiger medizinischer Hilfe darf keinesfalls zu ausländerrechtlichen Sanktionen (Meldung an die Ausländerbehörde, Abschiebehaft, Ausweisung oder Abschiebung) führen. Die Übermittlung von Daten an die Ausländerbehörde im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme medizinischer Versorgung muss untersagt sein.

Lösungsansätze: AK, Bremer Modell und Notfallversorgung

Unser Ziel ist es, die gesundheitliche Versorgung der Personenkreise mit Leistungsberechtigung nach AsylbLG durch folgende Veränderungen im Zugang zu gesundheitlichen Leistungen und im Behandlungsumfang zu verbessern:

1. „Bremer Modell“ für Menschen im Asylverfahren und mit aufenthaltsrechtlicher Duldung

Eine gesetzliche Krankenkasse übernimmt die Abrechnung medizinischer Behandlungen über eine von ihr ausgestellte Chipkarte und fordert die entsprechende Kostenerstattung von den Sozialämtern an (§264 Abs. 1 SGB V). Die Krankenkasse erhält eine Verwaltungspauschale. Eine Vereinbarung zwischen dem Land Niedersachsen und einer gesetzlichen Krankenkasse zur Umsetzung der Leistungserbringung nach §264 Abs. 1 SGB V ist hierfür Vorraussetzung. Die Behandlungen können von dem genannten Personenkreis frei in Anspruch genommen werden und der Umfang der notwendigen Behandlung liegt im Ermessen der behandelnden ÄrztIn „um eine Erkrankung zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern“ (SGB V §27). Die Erstattungsanspruch entspricht somit dem regulären Leistungsspektrum der GKV.

2. Anonymisierter Krankenschein für „Illegalisierte“

Der Anonymisierte Krankenschein ist ein Konzept, um einen anonymen, unbürokratischen und für „Illegalisierte“ sicheren Zugang zur Krankenversorgung zu ermöglichen.

Form:
Der Anonymisierte Krankenschein soll durch eine anonymisierte Chipkarte einer GKV realisiert werden. Die rechtliche Grundlage zur Umsetzung der Leistungserbringung für Leistungsberechtigte nach AsylbLG stellt hierfür §264 1 Abs. SGB V (siehe Bremer Modell).

Vergabe:
Für die Vergabe an verschiedenen Standorten des Landes sorgen die erfahrenen Flüchtlingsinitiativen vor Ort. Sie verfügen über hinreichende Unterstützungs-Netzwerke und langjährige Erfahrung in diesem Feld und sind in dem betreffenden Personenkreis seit vielen Jahren als Anlaufstelle zur medizinischen Versorgung bekannt. Somit ist die Verwaltung der sensiblen persönlichen Daten dieses Personenkreises durch eine unabhängige nicht-staatliche Flüchtlingsorganisation gewährleistet. In Göttingen stellt die Medizinische Flüchtlingshilfe Göttingen e.V. die Vergabestelle.

Beratung:
Die Beratung steht unter ärztlicher Leitung. Ihre Aufgaben sind Klärung des gesundheitlichen Problems, Ermittlung der Lebensumstände und Bedürftigkeit, Vermittlung an eine Behandlungsstelle, Information gegenüber und Erfahrungsaustausch mit Praxen und Krankenhäusern im Vergabegebiet. Bei sozialen und juristischen Fragestellungen besteht eine Zusammenarbeit mit erfahrenen Einrichtungen (RechtsanwältInnen, Migrationszentrum, Behörden).

Finanzierung:
Die Finanzierung soll durch das Land Niedersachsen erfolgen. Die Abrechnung der Leistungen soll durch eine gesetzliche Krankenkasse gemäß §264 Abs. 1 SGB V erfolgen.

Behandlungsumfang:
Mit dem Verweis auf § 27 Abs. 1 SGB V besteht ein Anspruch auf Krankenbehandlung nach medizinischer Indikation im regulären Leistungsspektrum einer GKV.

Anonymisierung:
Die Anonymisierte Chipkarten werden bei der Erstberatung durch die jeweilige medizinische Flüchtlingshilfe mit einem numerischen Code versehen. Es wird eine entsprechende Kartei mit dem Namen, Geschlecht, Alter und Kontaktinformationen sowie dem festgestellten Gesundheitsproblem dieser Person angelegt. Die Beratung steht unter ärztlicher Leitung und somit unter dem besonderen Schutz der ärztlichen Schweigepflicht. Die Patientendaten sind geheim und verbleiben dauerhaft und ausschließlich in der Obhut und Verwaltung der jeweiligen medizinischen Flüchtlingshilfe.

Gültigkeit:
Der anonymisierte Krankenschein ist 3 Monate gültig und die PatientInnen können innerhalb dieser Zeit (Verlängerung bei Bedarf) eigenständig ÄrztInnen, Praxen und Krankenhäuser aufsuchen.

Anspruch:
Anspruch auf den anonymisierten Krankenschein haben alle Personen ohne regulären Aufenthaltstitel im Vergabegebiet.

Evaluierung:
Eine wissenschaftliche Kraft evaluiert das Projekt: Sie führt die Fall-Dokumentation und bewertet das Projekt abschließend (Reichweite, Kosten-Nutzen-Verhältnis, Kooperation mit Behandlungsinstanzen, ggf. Missbrauch).

3. Der „Eilfall“ – Notaufnahme im Krankenhaus

Das vorliegende Konzept sieht vor, dass eine Krankenhausbehandlung im Eilfall nach AsylbLG durch die beauftragte gesetzliche Krankenkasse übernommen wird. In der Praxis würde das folgendes für Leistungsberechtigte nach AsylbLG bedeuten:

1) Im Bremer Modell und für die anonymisierte Chipkarte: die Kostenerstattung für einen Krankenhausaufenthalt im Eilfall wird bei Menschen im Besitz einer regulären GKV Chipkarte oder einer Anonymisierten Chipkarte durch die beauftragte GKV übernommen.

2) „Illegalisierte“ nicht im Besitz einer anonymisierten Chipkarte: Menschen, die eine private Krankenhausrechnung bei einem Eilfall zugesendet bekommen haben, können durch die Vergabestelle des Anonymisierten Krankenscheines eine rückwirkend geltende Kostenübernahme durch die GKV beantragen (Anonymisierte Chipkarte). Zu prüfen wäre durch die Vergabestelle bei Antragstellung, ob dieser Mensch Anspruch auf eine anonymisierte Chipkarte hat (siehe oben) und ob ein Eilfall beim Aufsuchen einer Krankenhausbehandlung vorlegen hat.

Ein Konzept des Medinetz Hannover und der Medizinischen Flüchtlingshilfe Göttingen e.V.

Stand März 2014